Die Bibliothek
Nun, nachdem ich Achim von Arnims Kronenwächter und sein Landleben gelesen habe und Friedrich Nietzsches Nachlaß in sieben Bänden und Friedrich Kittlers Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft und Christiaan L. Hart Nibbrigs Geisterstimmen, kann ich folgendes sagen. Was die Bibliothek betrifft, so sei sie kein Archiv, das verstaubt, keine Abstellkammer. Aber ein Ort für Zeugnisse einer Imperfekten Vergangenheit, der es erlaubt, von verschiedenen Blickwinkeln aus ins Herzzerreißende der Dinge zu geraten. Das Imperfekt der Vergangenheit ist eine jeweilig bevorstehende Gegenwart, oder genauer das "immediate Futur" der nicht vernarbten Ereigniße, der chiasmatische Komplex, der im Buch wie ein erstarrter Schrei wartet. Bücher, oder genauer Buchrücken haben Zeit. Sie drängen sich nicht vor wie Bildereignisse, von denen jedes das erste sein will. Irgendwann kommen sie von selbst an die Reihe. Es beginnt zumeist im Mitleid des Betrachters. Und wenn es dann losgegangen ist, dann kommt es keineswegs darauf an, mit dem Ergebnis, das brennt, fertig zu werden. Perfektion ist immer ein Verbrechen. Asche ist das Ende der Verwesung. Lesen heißt nicht löschen, sondern Tränen ins Feuer gießen. Es gibt nur ein untrügliches Zeichen, daß man alles verstanden hat, schrieb Cioran, haltlos weinen, vor Freude, vor Trauer. Wenn man nicht mehr versteht, hört dieses Weinen von alleine auf.
Pfingsten 2001 – Dietmar Kamper